Samstag, Mai 27, 2006

Forza Allez

"Wenn ich mal groß bin, will ich auch Spießer werden"

Dieser Satz kam mir früher in den Sinn, wenn ich mir einen typischen St.Pauli-Fan vorstellte. Linksradikales Pack mit Dreadlocks oder im Punklook, stets einen Joint im Gesicht und mit Totenkopffahnen schwenkend. Ich stellte mir vor, daß vor jedem Spiel Flugblätter verteilt werden, die die Gesellschaft anprangern, und sich nach dem Spiel zur großen Gegnerkeile versammelt oder ein wenig für die Hafenstraße demonstriert wird. Vielleicht würde auch der eine oder andere Pflasterstein fliegen und die Leute zündeten Mülltonnen an um sich zu wärmen. Oder auch mal ein Auto. Fußballstadien auf Pauli sind schon ein rauhes Pflaster.

Jaja, ich weiß. Nach der Rechtschreibreform heißt das "rau". Ich finde aber, daß sich das Wort "rau" höchstens als Nachname für angesehene Bürger eignet und nicht als ruppende und rempelnde Beschreibung einer gewissen Sprödigkeit. Als rauhen Gesellen stellte ich mir den guten Johannes nicht vor. Als Rau`en schon.

Aber zurück zum Fußball. Immer diese Ablenkungen. Nun bleib doch mal beim Thema.

Ich betrachtete also lange Zeit den Haufen, der das Stadion lautstärketechnisch zur Spielzeit in den Mittelpunkt des Kiezstadtteils rückte, der die Stadt bis zur Schanze hoch mit "HellsBells" beschallt wenn ein Tor fällt, mit einer ängstlich zurückhaltenden Faszination.

So war es schon überraschend als ich irgendwann feststellte, daß man nicht zur Hausbesetzerszene (gibts die eigentlich noch?) gehören muß, sondern auch "normale" Leute "auf Pauli" gehen. Aber als ein guter Freund mich fragte, ob ich nicht mal mitgehen wolle, antwortete ich trotzdem überzeugt: ja, will ich nicht.

Steter Tropfen höhlt den Stein und Faszination ist Faszination. Mit jedem "nein" wuchs der Wunsch, sich das doch einmal anzugucken. Konsequenz kann auch ein Ausdruck von Verbohrtheit sein. Natürlich war Fußball weiterhin primitiv und blöd, aber vielleicht wäre es doch eine gute Idee sich das mal anzugucken, damit die Argumente dagegen hinterher authentischer fließen.

Was soll ich sagen. Ich war sofort infiziert. Impfstoffe gibts keine, Astra dafür eine ganze Menge.

Wenn wir jetzt einmal den Blick durchs Stadion schweifen lassen, liegt sich da hinten, nein, ein Stückchen weiter links, einer dieser Jeanswestenrocker einem Werbefuzzi in den Armen. Tolles Tor! Da hinten, ein Stückchen weiter rechts toben Kinder mit Retterchen-T-Shirt und Vati, der zwar mit Totenkopfpulli bekleidet ist, könnte ein Kollege von mir aus der Bank sein. Und der Typ da hinten. Kennen wir den nicht aus dem Fernsehen? Wie heißt der noch.....hmpf, fällt mir grad nicht ein. Ein Viertelpfund Gemischtes. Ein wenig von allem. Laßt doch mal die Frau mit dem Baby im Arm durch. Und Zecken? Klar. Reizendes Volk, welches mich daran erinnert, daß es auch in meinem Leben einst eine Zeit des Haare-nie-kämmens gab. Das hatte ich fast verdrängt.

Hier gibt es kein Gerempel und Geboxe. Es gibt keine Schmähgesänge auf den Gegner, es gibt keine Rauchbomben, sondern Wunderkerzen und die Fans der anderen Mannschaft werden fröhlich mit ihrem Fanlied willkommen geheißen.

Hier bin ich Mensch, hier darf ich sein.

Nachdem ich ein paar Spiele lang meine Zeit damit verbrachte, das Publikum zu beobachten, fing ich schließlich auch an, mich für das zu interessieren, was auf dem Feld passierte. Und mittlerweile bin ich beim "wir" angekommen. "Wir haben gewonnen". "Wir haben heute echt abgekackt". Wenn ich mir vorstelle, daß ich lange Jahre jeden, der so sprach anzickte "Ach was, "wir"? hast du mitgespielt oder was?", kann ich über meine Verbissenheit heute nur noch milde Lächeln.

Gut, die Leistungskurve der Jungs gleicht manchmal schon einer Laola-Welle. Mal sind sie - sind wir - ganz oben, mal spielen sie - spielen wir - auf Schulhofniveau. So ist es im Leben. Ein stetes auf und ab. So etwas verdirbt einem ja nicht mehr die Laune. Und da wir jetzt noch eine Saison in der Regionalliga spielen dürfen, wird wenigstens die Dauerkarte nicht teurer.

Leider erinnert uns manchmal der gegnerische Fanblock daran, daß es auch "andere" Fußballfans gibt. An dieser Stelle noch einmal ein große "Pfui" über Chemnitz. Schämt euch. Es mag vielleicht Gegenden geben, in denen rechte Parolen und Schlägerwille gern gesehen und willkommen sind. Hier nicht. Geht weg. Spielt woanders.

Ob ich weiß was "Abseits" ist?

Öhm. Wo ist eigentlich mein Regenhut...möchte noch jemand ein Bier?

3 Kommentare :

Bob hat gesagt…

Frauen die auf Fussball stehen sind mir ja eigentlich suspekt;). Aber dieses Phänomen treffe ich immer häufiger an, scheint ein Art Virus zu sein. Das geht vorbei. Das ist so als ob Männer sich plötzlich für Strickmuster interessierten oder die neue Wunder-Diät besprächen...:) Hm, vielleicht tauschen wir aber auch einfach nur die Rollen. Für Fussball bin ich ja eigentlich nicht so zu begeistern aber auf meine Ernährung achte ich immer mehr (oder weniger)... Aber so lange wir uns sonst noch ordentlich daneben benehmen dürfen ist die Welt ja in Ordnung:)

Kühles Blondes hat gesagt…

Nicht "supekt" Bob...das heißt "fasziniert".
:)

Anonym hat gesagt…

wenn ich es nicht vergesse, hast du deinen geliebten regenhut am mittwoch zurück ;o)